In Europa richten sich viele Hoffnungen auf einen Wahlsieg Joe Bidens bei der US-Präsidentschaftswahl am 3. November: Anders als Amtsinhaber Donald Trump bekennt sich der demokratische Herausforderer klar zur transatlantischen Partnerschaft und zur internationalen Kooperation etwa bei der Bekämpfung des Klimawandels und des Coronavirus. Experten rechnen jedoch damit, dass Biden die Politik seines Vorgängers in zentralen außenpolitischen Fragen fortsetzen wird — und mit einem weiteren Rückzug der USA aus der internationalen Politik.
In Deutschland ist die Stimmungslage vor der US-Wahl eindeutig: 89 Prozent wünschen sich laut dem ZDF-Politbarometer Biden als nächsten US-Präsidenten. Der Europa-Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD), warnt aber vor „Nostalgie und Wunschdenken“. „Wir sollten uns von der Vorstellung verabschieden, dass nach der Wahl plötzlich ‚wieder alles gut‘, alles ‚wieder wie früher‘ wird“, sagte er der Nachrichtenagentur AFP. Die USA richteten bereits seit geraumer Zeit ihren „weltpolitischen Kompass“ neu aus. Daran werde sich unabhängig vom Wahlausgang „nichts grundlegend ändern“.
Auch der Kölner Politik-Professor Thomas Jäger rechnet nicht mit einer grundlegenden Neuaufstellung der US-Außenpolitik, sollte Biden die Wahl gewinnen. „Der Ton wird sich ändern, in der Sache wird sich wenig ändern“, sagte er AFP. Biden werde einen „freundlichen Druck entfalten“ wo Trump bisher „groben Druck“ ausgeübt habe, fügte er mit Blick etwa auf die US-Forderung an die Europäer hinzu, sich sicherheitspolitisch mehr einzubringen. Zwar werde eine Regierung unter Biden versuchen, sich deutlich von der Ära Trump abzugrenzen, sagte Jäger. Dies werde aber vorrangig innenpolitische Bereiche wie die Gesundheits- und Bildungspolitik betreffen.
Auf eine kooperativere Haltung der USA dürften die Europäer nach Jägers Einschätzung im Falle eines Wahlsiegs von Biden vor allem in den internationalen Klimaverhandlungen hoffen. Biden habe bereits angekündigt, dass er den Austritt seines Landes aus dem Pariser Klimaabkommen stoppen werde.
Kontinuitäten dürfte es dagegen vor allem im Verhältnis zu China und dem Iran geben. Auch Biden betone, dass er „tough with China“ – hart gegenüber China – sein wolle, heißt es in einer kürzlich veröffentlichten Politik-Analyse von Experten der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) um den Politologen Marco Overhaus. Auch der demokratische Herausforderer beklage den Diebstahl von Technologie und geistigem Eigentum durch China und dessen aggressives Verhalten.
„Der Anti-China-Konsens hat sich auf beiden Seiten des politischen Spektrums sowohl in den außenpolitischen Eliten als auch in Teilen der US-amerikanischen Bevölkerung weiter verfestigt“, schreiben die SWP-Experten. Möglich sei, dass die Rivalität mit Peking „zum organisierenden Prinzip der amerikanischen Außenpolitik“ werde.
Jäger kritisiert eine Vermeidungshaltung der Europäer in der China-Frage. „In Europa gibt es ja immer noch die heimliche Hoffnung, dass man sowohl mit den Amerikanern als auch mit den Chinesen gut kann. Man hofft etwa weiterhin, dass man einen 5G-Ausbau mit Unternehmen aus beiden Staaten haben kann.“ Das werde aber weder unter einer Trump- noch unter einer Biden-Regierung der Fall sein. „Die große Frage ist doch: Machen die Europäer bei der konfrontativen China-Politik mit oder nicht? Diese Frage versucht man in Europa, insbesondere in Deutschland, zu umgehen. Das wird nicht funktionieren.“
Auch im Verhältnis zum Iran werde Biden wahrscheinlich die Politik Trumps fortsetzen, sagt Jäger. Auch wenn Biden als Vizepräsident unter Barack Obama selbst an der Aushandlung des Atomabkommens mit Teheran beteiligt gewesen sei: „Ich gehe nicht davon aus, dass eine Administration Biden einfach wieder in das Nuklearabkommen einsteigen würde.“ Das habe auch innenpolitische Gründe: „Der Iran hat in der amerikanischen Öffentlichkeit einen ganz unfreundlichen Ruf.“ Biden werde sich daher bei diesem Thema nicht „verkämpfen“ wollen.
Für die Europäer werden die USA auch nach den Wahlen ein „schwieriger Bündnispartner“ bleiben, prognostiziert die SWP. Angesichts der sich vertiefenden politischen und gesellschaftlichen Spaltung und der wachsenden Ungleichheit in dem Land werde die Regierung in Washington mehr Aufmerksamkeit und finanzielle Ressourcen in die Bewältigung innenpolitischer Probleme stecken. Außen- und sicherheitspolitisch werde sich Washington deshalb künftig „(noch) selektiver“ engagieren – und dies womöglich stärker im Indopazifik als in Europa.
Staatsminister Roth will die strategische Neuausrichtung der USA auch als Chance verstehen. „Europa sollte die Corona-Krise und die geopolitisch stürmische Großwetterlage vor allem als Weckruf und Chance zur Stärkung unserer Souveränität begreifen.“ Es sei an der Zeit, „dass Europa seine Rolle in der Welt stärkt und auf eigenen Füßen steht“.