Gletscherschmelze in den Alpen gibt Jahrtausende alte Schätze frei

Alpen - Bild: davidcharouz via Twenty20
Alpen - Bild: davidcharouz via Twenty20

Mühsam müssen sich die Männer vor 9500 Jahren die steilen Hänge des Gletschers hinaufgekämpft haben – bis sie wertvolles Bergkristall fanden, das sie zur Herstellung von Werkzeugen brauchten. Solche lange vergangenen Ereignisse können Archäologen aus Spuren von Jägern und Sammlern der Mittelsteinzeit ableiten. Die abgelegene Kristall-Fundstelle nahe des Brunifirm-Gletschers im ostschweizerischen Kanton Uri ist eine von vielen archäologischen Stätten, die das rasant schmelzende Gletschereis in den vergangenen Jahrzehnten freigegeben hat. 

Mit der Gletscherarchäologie entstand ein ganz neues Forschungsfeld. Angesichts steigender Temperaturen prophezeien Gletscherforscher, dass 95 Prozent der rund 4000 Eisfelder in den Alpen bis Ende dieses Jahrhunderts verschwinden könnten. Zwar beklagen Wissenschaftler den verheerenden Verlust. Gleichzeitig bietet die Gletscherschmelze jedoch die Gelegenheit, Wissenslücken über das Leben vor tausenden von Jahren zu füllen.

„Wir machen überaus faszinierende Funde, die uns ein Fenster zu einem Teil der Archäologie öffnen, zu der wir normalerweise keinen Zugang haben“, sagt Marcel Cornelissen, der im vergangenen September die Expedition zum Brunifirm-Gletscher leitete.

Bis in die frühen 1990er Jahre glaubten Forscher, Menschen in prähistorischer Zeit hätten sich nicht ins Hochgebirge gewagt. Doch seither sind aus dem schmelzenden Gletschereis Funde wie beispielsweise der 5300 Jahre alte Ötzi in Südtirol aufgetaucht. Heute geht die Forschung davon aus, dass damals auf Bergen und in den Tälern gejagt, Vieh geweidet oder nach Rohstoffen gesucht wurde. 

„Wir wissen heute, dass die Menschen auf der Suche nach Kristallen und anderen Rohstoffen Berge bis 3000 Meter Höhe bestiegen“, erklärt der Archäologe Christian auf der Maur.

Auch das Schnidejoch auf 2756 Meter Höhe in den Berner Alpen erwies sich als wahre Fundgrube: 2003 wurde dort ein Köcher aus Birkenrinde aus dem Jahr 3000 vor Christus gefunden, später auch Lederhosen und Schuhe sowie hunderte andere Objekte, die bis auf das Jahr 4500 vor Christus zurückgehen. 

„Es ist spannend, weil wir auf Dinge stoßen, die wir normalerweise bei Ausgrabungen nicht finden“, sagt die Archäologin Regula Gubler. Denn organische Materialien wie Leder, Holz, Rinde und Textilien gehen meist durch Erosion verloren. Eingefroren im Eis sind sie intakt geblieben. Im September förderte Gublers Team ein Stück geknüpften Bast ans Tageslicht – wahrscheinlich ein 6000 Jahre altes Körbchen.

Werden die organischen Materialien nicht schnell entdeckt, zerfallen sie und verschwinden. „Es ist ein sehr kurzes Zeitfenster. In 20 Jahren werden diese Funde und diese Eisflächen verschwunden sein“, warnt Gubler. Auch Cornelissen meint: „Der Rückzug der Gletscher und das Abschmelzen der Eisfelder ist schon weit fortgeschritten. Ich glaube nicht, dass wir einen weiteren Ötzi entdecken.“

Daher sind die Archäologen nun auf Wanderer und andere Alpinisten angewiesen. Manchmal brauche es viel Zeit und Glück, erzählt Archäologe Pierre-Yves Nicod. Als er vor zwei Jahren eine Ausstellung zur Gletscherarchäologie organisierte, erfuhr er von einer Holzskulptur, die zwei italienische Wanderer 1999 auf dem Arolla-Gletscher auf 3100 Metern Höhe fanden, mitnahmen und in ihr Wohnzimmer hängten. 

Die Untersuchungen ergaben, dass die rund ein Meter lange Skulptur in Menschengestalt mit dem flachen, finster dreinblickenden Gesicht über 2000 Jahre alt ist. Laut Nicod handelt es sich „um ein keltisches Objekt aus der Eisenzeit“.

Nun fragt sich der Forscher, „wie viele dieser Objekte überall in den Alpen in den vergangenen 30 Jahren aufgesammelt wurden und nun in Wohnzimmern hängen“. Er hält es für dringend notwendig, die Bevölkerung zu sensibilisieren: „Es handelt sich um einen archäologischen Ernstfall.“

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