Vier Jahre trieb Donald Trump die Europäer in EU und Nato vor sich her: Er drohte mit einem Handelskrieg gegen deutsche Autos, kündigte reihenweise internationale Abkommen und verlangte eine massive Steigerung der Verteidigungsausgaben. Die Hoffnungen auf einen Wahlsieg von Joe Biden waren groß. Doch die Hängepartie um das Weiße Haus und die Aussicht auf eine dauerhaft gespaltene USA sind ein Weckruf. Die Forderungen nach mehr Eigenständigkeit Europas werden lauter.
Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian verlangt nach der US-Wahl ein „neues transatlantisches Verhältnis“. Unabhängig vom Wahlergebnis sei eine Rückkehr „zu den guten alten Zeiten der transatlantischen Beziehungen“ aus der Ära vor Trump nicht möglich. Europa müsse mehr Eigenständigkeit beweisen.
Positiv für die Europäer wäre, dass es mit Biden als Präsident wieder „eine stärkere Hinwendung zu Allianzen und Bündnissen gibt“, sagt Markus Kaim von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Er verweist auf die von Biden angekündigte Rückkehr ins Pariser Klimaabkommen. Und auch ein Wiedereinstieg beim Atomabkommen mit dem Iran sei nicht ausgeschlossen.
Doch in Deutschland wächst gleichfalls die Einsicht, dass sich das transatlantische Verhältnis im Wandel befindet. „Gerade im Hinblick auf die Entwicklungen der Vereinigten Staaten in der internationalen Politik“ gebe es „allen Grund darauf zu bestehen, dass Europa seine eigene Kraft entfaltet“, sagt Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz. Es gehe um „europäische Souveränität“.
Was dies konkret bedeutet, ist offen. In Fragen der Verteidigungspolitik sind die Europäer seit Jahren gespalten. Und auch bei Wirtschaftsthemen fällt es den EU-Staaten aufgrund widerstreitender nationaler Interessen schwer, eine Linie zu finden. Die Europäer könnten damit auch unter einem Präsidenten Biden eher Getriebene bleiben.
Obgleich Biden „Europa besser versteht als Trump“, werde er „nicht von einem Tag auf den anderen die Herangehensweise Washingtons“ ändern, warnt der frühere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Im Wirtschaftsbereich habe schließlich auch er im Wahlkampf mit „Buy American“-Parolen gearbeitet.
Biden werde zwar „die Drohung eines Handelskrieges vom Tisch nehmen“, meint Sam Lowe vom Centre for European Reform. Die EU dürfe sich aber nicht der Illusion hingeben, „dass Biden ein verkleideter Europäer ist“. Es werde in der Wirtschaftspolitik zwischen beiden Seiten weiter große Meinungsverschiedenheiten geben, etwa bei der Besteuerung von Internet-Konzernen.
In der Handelspolitik werde „die größte Herausforderung“ sein, „wie am besten mit dem Aufstieg Chinas umzugehen ist“, sagt Lowe. Kaim erwartet hier aus Washington die Forderung, „sich ganz eindeutig auf die amerikanische Seite zu schlagen“. Dies könne gerade mit Blick auf die deutsche Exportwirtschaft mit Kosten verbunden sein. „Dann werden die Deutschen weniger Autos in China verkaufen, weil Peking zu Gegenmaßnahmen greifen wird.“
Auch im Verteidigungsbereich sei für Biden das eigentliche Thema China, sagt Kaim. Zwar werde Washington von den Europäern in der Nato kaum erwarten, sich militärisch in Asien zu engagieren. Die Forderung aus dem Weißen Haus könnte aber auf eine „plakative Arbeitsteilung“ hinauslaufen: „Ihr helft uns in Europa, damit wir uns stärker in Asien engagieren können.“
„Die zweite Facette“ für Washingtons Europapolitik sei Russland, sagt Kaim. „Die Amerikaner werden eine strategische Analyse machen, wie ihr Verhältnis zu Russland aussehen sollte. Daraus wird sich alles andere ableiten.“ Dies mache die Situation „so unbequem für die europäische Politik.“
Biden werde von den Europäern „mehr sicherheitspolitische Eigenverantwortung erwarten“, ist sich der Grünen-Außenpolitiker Reinhard Bütikofer sicher. Und für Kaim ist schon jetzt klar: „Eine dauerhafte amerikanische Truppenpräsenz in Europa ist keine Selbstverständlichkeit mehr.“