Es sind sehr persönliche und emotionale Worte, die Ursula Mertens zum Abschluss des Prozesses gegen den Halle-Attentäter findet. Sie habe schon viel erlebt, aber in diesem Verfahren habe sie „in die Abgründe des Menschlichen geschaut“, sagt die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht Naumburg am Montag in ihrer Urteilsbegründung. Nach fünf Monaten Verhandlung wird gegen den Angeklagten Stephan B. die Höchststrafe verhängt – lebenslang mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld und anschließender Sicherungsverwahrung.
Der mit schwarzer Jacke und dunkler Hose bekleidete Angeklagte verfolgt die Urteilsbegründung meist still und aufmerksam. Als Mertens nach drei Stunden ihre Ausführungen schließt, wirft er seinen Papphefter in den Gerichtssaal, bevor er von Justizbeamten überwältigt wird.
Bis zum Schluss zeigt der 28-Jährige weder Einsicht noch Reue. B. breitete vor Gericht stattdessen weiter seinen Hass auf Juden und Muslime aus und verging sich in Verschwörungstheorien. Wiederholt verwies ihn Mertens in die Schranken und drohte B. wegen seiner „menschenverachtenden Äußerungen“ mit einem Ausschluss aus der Verhandlung.
Die Gesellschaft müsse vor solch einem Menschen geschützt werden, begründet Mertens die Höchststrafe plus Sicherungsverwahrung. „Wenn Sie ihre Grundhaltung nicht ändern, werden Sie niemals mehr in Freiheit leben können“, sagt sie an B. gewandt.
Mertens schildert in ihrer Urteilsbegründung noch einmal, wie der Angeklagte am 9. Oktober vergangenen Jahres versuchte, schwer bewaffnet in die Synagoge in Halle einzudringen und dort am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur ein Massaker unter den dort versammelten 51 Menschen anzurichten. Doch die massive Holztür zum Synagogengelände widerstand. Heute steht sie als Mahnmal in Halle.
Vornehmlich aus Frust über sein Scheitern erschoss Stephan B. auf der Straße eine 40-jährige Frau. Als er wenig später in einem Dönerimbiss einen 20-jährigen Handwerker tötete, hatte er eigentlich Migranten im Visier und nicht Kevin S., der sein Mittagessen holen wollte.
Mertens spricht von einer „abscheulichen, feigen und menschenverachtenden Tat“. B.s Tatmotiv sei seine antisemitische, von Rassenhass geprägte Gesinnung. Dass andere Menschen mit dem Leben davon kamen, ist wohl nur der Tatsache zu verdanken, das B.s selbstgebauten Waffen mehrfach Ladehemmungen hatten.
Seine Taten übertrug und kommentierte Stephan B. live ins Internet. Vor Gericht gestand er weitgehend. Die Beweislage war also recht eindeutig. Daher ging es in dem Verfahren nicht nur um die juristische Bewertung von Schuld oder Unschuld. Die mehr als 40 Nebenkläger erhielten auch viel Raum für ihre Emotionen und Gedanken.
Bei vielen der Opfer hinterlässt die Tat bleibende Spuren. Es gibt aber auch einen großen Solidarisierungseffekt. Am Montag herrscht vor der Urteilsverkündung fast eine gelöste Stimmung unter vielen Nebenklägern, es gibt Umarmungen und Zuspruch verbunden mit dem Gefühl, dass die juristische Aufarbeitung des Anschlags nun vorerst abgeschlossen ist.
Es waren aber vor allem auch die Nebenklagevertreter, die auf eine gesellschaftliche Debatte über Antisemitismus und Rassismus in Deutschland und eine Strategie im Umgang mit der zunehmenden Internetradikalisierung drangen. Denn zuvor unauffälligen Tätern wie B., die sich im Internet Gleichgesinnte für ihre antisemitische und fremdenfeindliche Gesinnung suchen, kommen die Sicherheitsbehörden bislang kaum auf die Spur.
Dass jemand mindestens sechs Jahre lang in seinem Kinderzimmer sitze und unbemerkt Waffen und Sprengsätze zusammenbaue, habe eine „neue Qualität“, sagt Mertens – und an ihren Worten ist zu merken, wie nah ihr das Verfahren geht. „Wie kommt es, dass Bildung, Familie und soziales Umfeld so versagen? Das treibt uns um.“
Welche Rolle die Familie spielte, warum B. und seine Pläne in seinem Umfeld nicht früher auffielen oder warum es den Sicherheitsbehörden nicht gelingt, solchen netzaktiven Einzelgängern auf die Spur zu kommen, das gehört zu den unbeantworteten Fragen des Prozesses.