Indien steht vor einer Mammutaufgabe: Am Samstag fällt in der 1,3-Milliarden-Einwohner-Nation der Startschuss für die Impfungen gegen das neuartige Coronavirus – eine gewaltige Herausforderung angesichts maroder Infrastruktur und in der Bevölkerung weit verbreiteter Skepsis. Mit einer der größten Impfkampagnen weltweit will das Schwellenland bis Juli 300 Millionen Menschen gegen Covid-19 immunisieren.
Als erstes werden 30 Millionen Mitarbeiter im Gesundheitswesen und aus anderen Risikobereichen einen der Impfstoffe mit Notfallzulassung erhalten, gefolgt von rund 270 Millionen Einwohnern über 50 Jahren oder Risikopatienten. Rund 150.000 Helfer in 700 Bezirken wurden speziell geschult und es gab landesweit Probeläufe, bei denen der Transport von Impfstoffen und die Impfung mit Attrappen und Statisten geübt wurde.
Indien kann auf Erfahrungen aus den Immunisierungsprogrammen gegen Polio und Tuberkulose sowie der aufwändigen Organisation mehrwöchiger Wahlen zurückgreifen. Dennoch ist die Aufgabe gewaltig in dem riesigen Land mit unzuverlässigen Transportnetzen und einem der am schlechtesten finanzierten Gesundheitssystemen der Welt. Die Impfkampagnen von Kindern seien eine „viel kleinere Sache“, die Immunisierung gegen Covid-19 „eine große Herausforderung“, betont Satyajit Rath vom National Institute of Immunology.
Die zwei in Indien zugelassenen Impfstoffe – Covishield vom britisch-schwedischen Pharmakonzern Astrazeneca, das vom Serum Institute in Indien hergestellt wird, und Covaxin vom indischen Konzern Bharat Biotech – müssen stets gekühlt werden. Dafür stehen zehntausende Kühl- und Gefrierdepots und sogar Solar-Kühlgeräte bereit.
Indien hat vier Mega-Depots, die die Lieferungen entgegennehmen und sie in gekühlten Lieferwagen zu den Verteilzentren der einzelnen Bundesstaaten transportieren. Am problematischsten ist das letzte Stück des Wegs: Bei einem Probelauf im ländlichen Bundesstaat Uttar Pradesh wurde vor kurzem ein Mitarbeiter des Gesundheitswesens fotografiert, wie er Kisten mit Impfstoff-Attrappen einfach auf seinem Fahrrad transportierte.
In der Unruheregion Kaschmir waren nach Behördenangaben in der vergangenen Woche die Datenbanken vorrangiger Bevölkerungsgruppen und Personallisten noch in Arbeit. Während des letzten Probelaufs am Freitag mussten Mitarbeiter eines Gesundheitszentrums in Bangalore einen Handy-Hotspot nutzen, um trotz zusammengebrochener Internetverbindung online wichtige Informationen abrufen zu können.
Bedenken gibt es auch hinsichtlich des Plans der Regierung, den gesamten Prozess digital mittels seiner App CoWin zu verwalten, denn davon kursieren bereits mehrere gefälschte Versionen.
In Indien starben mehr als 150.000 Menschen an Covid-19 und die Wirtschaft leidet schwer unter der Pandemie. Millionen Menschen, darunter zahlreiche arme Wanderarbeiter, haben ihren Lebensunterhalt verloren. „Ich freue mich auf die Impfung, damit ich ohne Angst und die ständige Maske leben kann“, sagt der 43-jährige Wanderarbeiter Shatrughan Sharma in Neu Delhi. „Das vergangene Jahr war sehr hart für uns.“
Doch auch in Indien herrscht Impfskepsis, angeheizt von einer Flut von Fehlinformationen im Internet. Eine Umfrage unter 18.000 Menschen ergab vor Kurzem, dass 69 Prozent es mit der Impfung nicht so eilig haben. Hinzu kommt, dass der Impfstoff des heimischen Unternehmens Bharat Biotech ohne die Daten aus Phase-III-Studien am Menschen nur eine umstrittene „eingeschränkte Zulassung“ erhielt.
Zudem sorgten Pläne des Serum Institute, das Astrazeneca-Vakzin an einzelne indische Bürger und Unternehmen für 1000 Rupien (11,19 Euro) pro Dosis zu verkaufen, für Unmut. Der Rikschafahrer Suresh Paswan im ostindischen Patna glaubt: „Es wird eine lange Wartezeit geben für arme Leute wie mich, weil die Wohlhabenden es zuerst bekommen.“