Die Corona-Beschlüsse von Bund und Ländern stoßen auf breite Kritik – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Der Verband der Intensivmediziner bezeichnete die geplanten Lockerungen am Donnerstag als verfrüht und warnte vor einem neuen, exponentiellen Anstieg der Infektionszahlen. Für Irritationen sorgte auch der komplizierte Stufenplan für angestrebte Öffnungen, von einem „Corona-Irrgarten“ war die Rede.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte sich mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder in der Nacht nach mehr als neunstündigem Ringen auf einen Öffnungsplan mit fünf Stufen verständigt. Bereits ab Montag soll demnach mit der Wiederöffnung des Einzelhandels begonnen werden. Das konkrete Ausmaß hängt davon ab, ob der Inzidenzwert regional über oder unter 50 liegt. Auch die Kontaktbeschränkungen werden etwas gelockert. Die Öffnungen sollen mit einem verstärkten Einsatz von Schnelltests flankiert werden.
Eine „Notbremse“ sieht allerdings vor, dass Öffnungsschritte wieder zurückgenommen werden, wenn der Inzidenzwert von 100 überschritten wird. Von dem erst bei der letzten Bund-Länder-Runde in den Mittelpunkt gestellten Schwellenwert von 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen ist nun nicht mehr die Rede – offensichtlich weil es kaum Landkreise gibt, die diesen Wert erreichen.
Das Risiko sei nun hoch, dass durch die Verbreitung von Virusmutanten der R-Wert über 1,2 steigt „und wir wieder in ein exponentielles Wachstum geraten“, warnte der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), Gernot Marx, im Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Die Sorge sei, „dass wir in eine dritte Welle rutschen“, was dann auch wieder mehr Covid-Intensivpatienten bedeuten würde. Es müsse verhindert werden, dass viele Menschen jetzt noch kurz vor der Impfung an Covid-19 erkranken.
„Die Länder öffnen Schulen und Kitas weiterhin, wie sie wollen – ohne die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen“, kritisierte zudem die Vorsitzende der Gewerkschaft GEW, Marlis Tepe, in den RND-Zeitungen mit Blick auf fehlende Schnelltests und mangelnde Impfangebote für Lehrkräfte. Die Regierenden setzten auf Öffnungen trotz steigender Inzidenzwerte und vernachlässigten dabei den Gesundheitsschutz. Von einem „Blindflug“ wegen des Fehlens flächendeckender Schnelltests sprach Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz.
Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch sprach mit Blick auf den komplexen Öffnungsfahrplan in den Zeitungen der Funke Mediengruppe von einem „Corona-Irrgarten“ sowie von Verunsicherung durch ein „Inzidenz- und Lockerungswirrwarr“. Grünen-Chefin Annalena Baerbock warf der Bundesregierung in der ARD schwere Versäumnisse bei der Einführung von Schnelltests zur Absicherung von Öffnungsschritten vor. Auch sie mahnte wegen der schwierigen Infektionslage zur Vorsicht.
Unter anderem mit Blick auf die wirtschaftlichen Folgen gab es zugleich Widerstand gegen das grundsätzliche Festhalten an den Corona-Einschränkungen. Es gebe weiterhin „kein vernünftiges Schnelltestmanagement, kein Impfmanagement, keine Alternative zur einfältigen Schließung ganzer Branchen“, sagte FDP-Vize Wolfgang Kubicki der „Rheinischen Post“. FDP-Fraktionsvize Christian Dürr warf der Regierung im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AFP bei Teststrategie und Impfungen „ein großes Versagen“ vor.
Teilnehmer der Bund-Länder-Runde verteidigten die Beschlüsse. Die beschlossenen Lockerungen seien „absolut verantwortbar“, sagte Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) im RBB. Die Gesellschaft könne „nicht dauerhaft in einem Winterschlaf gehalten werden“. Zugleich sei es wichtig, „dass wir in der Schrittfolge vorsichtig bleiben“. Von einer „guten Perspektive“ für die weitere Pandemie-Politik sprach NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU). Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) begrüßte „klare Öffnungsperspektiven für alle“.