Hendrik Wüst im Interview: „Wir sollten uns keine Systemkrise einreden lassen“

Hendrik Wüst - Bild: Tobias Koch
Hendrik Wüst - Bild: Tobias Koch

Im Juni 2022 hat der nordrhein-westfälische Landtag Hendrik Wüst erneut zum Ministerpräsidenten gewählt. Damit bleibt der 47-jährige gebürtige Münsterländer nicht nur weitere fünf Jahre „Hausherr“ der Düsseldorfer Staatskanzlei, sondern führt auch die erste schwarz-grüne Landesregierung in der Geschichte Nordrhein-Westfalens.

Redaktion: Welchen Stellenwert haben Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?

Ich bin in einer Zeit geboren, in der gefestigte demokratische Strukturen nahezu selbstverständlich waren. In meiner Kindheit habe ich mir keine Gedanken machen müssen über Themen wie Freiheit und Gleichheit. Dieses Gefühl änderte sich mit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung. Diese Ereignisse waren für mich als damals 14-Jähriger ein entscheidender Impuls, um selbst politisch aktiv zu werden. Mein Ziel: Alle Menschen, auch die jungen Leute im „anderen Teil Deutschlands“, sollten die Möglichkeit haben, in einer Demokratie aufzuwachsen. Als Ministerpräsident ist eine meiner wichtigsten Aufgaben, für eine selbstbewusste und lebendige Demokratie einzustehen. Ich bin der festen Überzeugung, dass ein gut funktionierender Staat ein Garant dafür ist, dass Demokratie funktioniert.

Redaktion: Autokratische Regime attackieren zunehmend die Werte unserer Demokratie. Gleichzeitig bereiten soziale Verwerfungen – auch in NRW – den Nährboden für Populisten. Steckt die Demokratie, wie wir sie kennen, in einer Systemkrise?

Die Demokratie ist weltweit herausgefordert und muss sich bewähren. Das steht außer Frage. Wir sollten uns aber keine Systemkrise einreden lassen. Uns muss jedoch klar sein: Der Bestand der Demokratie ist nicht so selbstverständlich, wie wir es vielleicht lange gedacht haben. Das sehen wir ganz aktuell daran, dass in der Ukraine nicht nur ein territorialer, sondern auch ein Krieg gegen die Demokratie und unsere demokratischen Werte geführt wird. Demokratie muss immer wieder aufs Neue verteidigt werden – auch bei uns. Wir müssen für Demokratie werben und zeigen, dass sie das beste Regierungssystem ist, um den Menschen ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Frieden zu ermöglichen.

Redaktion: Als Ministerpräsident werden Sie die schwarz-grüne Landesregierung in den nächsten fünf Jahren anführen. Vor welchen Herausforderungen steht Deutschlands bevölkerungsreichstes Bundesland in der aktuellen Legislaturperiode?

Als Industrie- und Energieland stehen wir vor der besonderen Herausforderung, Klimaschutz und Industrie mit ihren guten Arbeitsplätzen und der damit verbundenen sozialen Absicherung zu versöhnen. Wir wollen Nordrhein-Westfalen zur ersten klimaneutralen Industrieregion Europas machen. Das bedeutet große Herausforderungen für unser Land, bringt aber auch genauso große Chancen mit sich.

Das zweite große Thema sind Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Eine der vordringlichsten Aufgaben wird sein, der kommenden Generation die bestmöglichen Zukunftsperspektiven zu bieten – unter anderem in Sachen Bildung, beginnend bei der Kita über die Schule bis hin zur Ausbildung oder zum Studium.

Redaktion: Kommunalpolitik wird oft als „Wiege der Demokratie“ bezeichnet. Wie wichtig ist Bürgerbeteiligung auf kommunaler Ebene, um das Vertrauen in die politischen Institutionen vor Ort – und somit insgesamt – zu stärken?

Die Aussage, Kommunalpolitik sei die „Wiege der Demokratie“, teile ich – in doppelter Hinsicht. Zum einen entscheidet sich häufig direkt vor der Haustüre, ob die Menschen das Gefühl haben, ihre Anliegen werden wahr- und ernstgenommen. Vor Ort beschäftigt die Menschen beispielsweise der sichere Schulweg, der Zustand des Kinderspielplatzes oder die Löcher in den Straßen. Kommunalpolitik ist nah bei den Menschen und daher von enormer Bedeutung für die Demokratie. Wenn die Politik in den Städten und Kommunen funktioniert, erfahren auch demokratische Prozesse insgesamt eine hohe Akzeptanz – davon bin ich fest überzeugt.

Zum anderen sind viele der Politikerinnen und Politiker, die heute auf Landes- oder Bundesebene tätig sind, ihre ersten Schritte in der Kommunalpolitik gegangen. Daher ist Kommunalpolitik oft auch die Wiege des eigenen politischen Engagements. Ich selbst war bereits mit 19 Jahren im Stadtrat meiner Heimatstadt und durfte dort Verantwortung mittragen. Das hat mich und meinen Lebensweg geprägt.

Redaktion: Laut Koalitionsvertrag wollen CDU und GRÜNE das aktive Wahlrecht ab 16 Jahren einführen. Diese Altersgruppe ist jedoch nicht dafür bekannt CDU zu wählen. Heißt, viele neuen Stimmen für Ihren Koalitionspartner, oder?

Das heißt in erster Linie, dass wir möglichst breite Angebote machen wollen, sich demokratisch zu beteiligen. Die stärkste Form der politischen Teilhabe ist, das Wahlrecht auszuüben. Ich hoffe, dass wir damit vielen jungen Menschen schon früh das Wählen nahebringen und die Möglichkeit geben, sich aktiv einzubringen.

Redaktion: In einem Interview sagten Sie kürzlich, Sie wollen Klimaschutz und Industrieland miteinander „versöhnen“. Wie kann das – auch hinsichtlich der Prognose, die 1,5-Grad-Grenze bereits 2026 zu erreichen – gelingen?

Die Klimaziele, die wir national wie international miteinander verabredet haben, sind ambitioniert. Ob wir sie erreichen, entscheidet sich maßgeblich in den großen Industrieregionen dieses Kontinents – dazu zählt insbesondere auch Nordrhein-Westfalen. Wir wollen Forschung und Entwicklung befähigen, international konkurrenzfähige Technologien für energieintensive Prozesse hervorzubringen, die den CO2-Ausstoß senken und eine klimaneutrale Produktion ermöglichen. Wir unterstützen insbesondere mittelständische Unternehmen bei Investitionen in klimaneutrale Produktionsprozesse, damit sie den Sprung in eine klimaneutrale Zukunft schaffen. Unsere ambitionierten Ziele wollen wir mit Innovation und deren Förderung erreichen und, da bin ich mir sicher, werden sie auch erreichen. Keine Generation vor uns hatte so viele Möglichkeiten und Mittel, mit dieser großen Herausforderung klug umzugehen. Wie wichtig es ist, auch bei der eigenen Energieversorgung unabhängig zu werden, führt uns Russlands Krieg in der Ukraine und dessen Folgen noch einmal eindringlich vor Augen.

Redaktion: Herr Wüst, unsere siebte Frage ist immer eine persönliche: Sie sind Vater der mittlerweile einjährigen Philippa. Wie gelingt Ihnen der Spagat zwischen Politik und Familie? Sind Eltern womöglich die „besseren“ Politiker?

Ich denke nicht, dass Eltern automatisch bessere Politikerinnen und Politiker sind – das Elternsein erweitert aber die eigene Perspektive. Ich will, dass wir unseren Kindern eine Welt hinterlassen, in der Klimaschutz, Wohlstand und soziale Sicherheit miteinander versöhnt sind. Eine Welt, in der die nächste Generation keinen überbordenden Schuldenberg zurückzahlen muss, den wir ihr hinterlassen haben. Eine Welt, in der die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für alle Menschen in unserem Land möglich ist. Eine gute Familienpolitik ist die Grundlage für das Funktionieren unserer Gesellschaft.

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