Gute Noten sind es nicht: Das brauchen Kinder, um glücklich zu werden

"#Education For Future" heißt das neue Buch von Gerald Hüther. - ©Josef Fischnaller

Wir alle müssten „endlich damit aufhören, der Schule so eine immense und überwältigende Bedeutung zuzuschreiben“, sagt Prof. Dr. Gerald Hüther (68) im Interview. Zusammen mit Marcell Heinrich und Mitch Senf will der Neurobiologe in seinem neuen Buch „#Education For Future“ (Goldmann) aufzeigen, wie Bildung für ein gelingendes Leben aussehen sollte. Die Schulen bekommen das nicht alleine hin, meinen die Autoren. Was für Kinder wirklich wichtig ist, erklärt Hüther hier.

Für viele Familien steht eine gute Schulbildung an wichtigster Stelle. In „#EducationForFuture“ beschreiben Sie, was die Kinder in den heutigen Bildungseinrichtungen nicht mitbekommen. Sollten sich Eltern davon verabschieden, dass gute Noten für ihre Kinder das Beste sind?

Gerald Hüther: Es ist ja nur allzu verständlich, dass sich Eltern nach Kräften darum bemühen, ihren Kindern eine gute Zukunft zu ermöglichen. Und da diese Eltern ja selbst durch so ein Schulsystem gegangen sind, wie es auch heute noch existiert, können sie sich gar nicht vorstellen, dass genau das, was damals noch so entscheidend war, für ihre Kinder weniger wichtig sein sollte. Deshalb kann es für solche Eltern hilfreich sein, sich selbst noch einmal zu fragen, worauf es wirklich ankommt, damit ihre Kinder später glücklich werden und ihnen das Leben gelingt.

Und dann werden wohl die meisten, wenn sie ehrlich sind, vor sich selbst zugeben, dass es viel wichtiger wäre, wenn ihr Kind seine angeborene Freude am Entdecken und Gestalten niemals verliert, wenn es Freunde findet, auf die es sich verlassen kann, wenn das, was es macht, auch seinen Begabungen und Talenten entspricht, es also gern tätig ist, Probleme löst und sein Leben mit einem gewissen Sinn erfüllt. Braucht man dazu gute Schulzensuren?

Kinder brauchen also keine Schulnoten?

Hüther: Wozu sollten sie die brauchen? Wer sie braucht, sind die weiterführenden Bildungseinrichtungen, also Berufsschule oder Universitäten, die sich weigern oder zu faul sind, sich die geeigneten Bewerber im persönlichen Gespräch selbst auszusuchen.

Wie sieht eine ganzheitliche Bildung aus und welches Ziel sollte sie verfolgen?

Hüther: All das, was Kinder und Jugendliche brauchen, um sich später im Leben zurechtzufinden und glücklich zu werden, lässt sich ja nicht unterrichten und schon gar nicht mit Zensuren bewerten. Dazu gehören auch die sogenannten exekutiven Frontalhirnfunktionen, also die Fähigkeit, Handlungen zu planen, die Folgen seines Handelns abzuschätzen, Impulse zu kontrollieren und Frust auszuhalten, auch Einfühlungsvermögen und Mitgefühl. Auch die Fähigkeit, sich selbst immer wieder zu hinterfragen, sich auf neue Erfahrungen einzulassen, offen und beziehungsfähig zu sein.

Mit diesen Fähigkeiten kommt kein Kind auf die Welt, aber alle können sie erwerben – und die dazu im Frontalhirn erforderlichen neuronalen Netzwerke aufbauen -, wenn ihnen Gelegenheit geboten wird, die dazu erforderlichen Erfahrungen im eigenen Tun und gemeinsam mit anderen zu machen. Bildung für ein gelingendes Leben erwirbt niemand in der Schule, wie das Leben geht, kann man nur im wirklichen Leben lernen.

Digitalisierung und Globalisierung beherrschen unsere heutige Zeit. Wie verändert das die Jugend im Vergleich zu den Generationen zuvor?

Hüther: Digitalisierung und Globalisierung machen die Welt, in die unsere Kinder und Jugendlichen hineinwachsen, zunehmend komplexer und vielfältiger. Sie verändert sich auch immer rascher. Das erzeugt Verunsicherung, manchmal sogar Angst, den Anschluss zu verlieren. Deshalb suchen Jugendliche heute wahrscheinlich viel stärker als in vorangegangenen Generationen nach Halt.

Manche schließen sich Anführern an, die ihnen Zugehörigkeit und Sicherheit, auch Macht und Einfluss versprechen. Manche suchen nach Stärkung bei Gleichgesinnten in den Blasen der sozialen Medien. Und manche verschaffen sich als Beherrscher von Ballerspielen die Illusion, sie seien kompetent und hätten alles unter Kontrolle. Ich möchte selbst auch nicht in der Haut dieser vielen verunsicherten Jugendlichen stecken. Bedürftige sind besonders leicht verführbar.

Wenn Sie selbst eine Schule gestalten könnten, wie würde das Bildungssystem darin aussehen?

Hüther: Schulen und auch die dort tätigen Lehrpersonen würde ich von allem entlasten, was dort gar nicht leistbar ist. Bildung für ein gelingendes Leben wäre dann eine zivilgesellschaftliche Aufgabe und müsste dort stattfinden, wo das Leben stattfindet. Ich würde also dafür sorgen, dass in Schulen künftig kompetent und verlässlich genau das gemacht wird, was dort alle können, worin sie ausgebildet worden sind und wofür Schulen ja auch da sind: Aufbewahrung, das nennen die Politiker „volle Unterrichtsversorgung“; Ausbildung, also Unterricht und Belehrung über all das, was sich mit Hilfe von Belohnungen und Bestrafungen unterrichten lässt; und Selektion, also Auswahl jener Schüler, die sich für eine weitere Ausbildung in bestimmten Bereichen und den späteren Einsatz in entsprechenden Berufen besser eignen als andere. Solchen Schulen könnten sich dann allerdings nicht mehr als „Bildungseinrichtungen“ bezeichnen.

Wie können Eltern dafür sorgen, dass Kinder ihre Talente und Begabungen entdecken, ihr Potenzial entfalten?

Hüther: Sie müssten ihnen genügend Zeit und Möglichkeiten bieten, um spielerisch erproben zu können, wie das Leben geht. Wenn man Kinder unbemerkt dabei beobachtet, lässt sich sehr leicht herausfinden, wer sich für etwas besonders interessiert und ein besonderes Talent für irgendetwas hat. Im freien und unbekümmerten Spiel erlebt sich jeder Mensch als Subjekt und Gestalter seines eigenen Lernprozesses. Nichts ist ein besserer Lehrmeister, um herauszufinden, wie etwas geht, als die Fehler die bei diesen spielerischen Erkundungen immer wieder gemacht werden dürfen.

Jugendliche scheinen heutzutage eine Vielzahl von Möglichkeiten zu haben. Wie entwickeln sie eine verlässliche Orientierung für sich selbst?

Hüther: Meist sind es Vorbilder, an denen sich Jugendliche orientieren. Schlimm nur, wenn solche Vorbilder selbst orientierungslos umherirren oder gar so tun, als wüssten sie ganz genau, worauf es im Leben ankommt.

Was können Eltern, Erzieher, Lehrer und Mentoren im Alltag unternehmen, um die Schwächen des Bildungssystems auszugleichen?

Hüther: Es würde ja reichen, wenn diese Personen und wir alle endlich damit aufhören, der Schule so eine immense und überwältigende Bedeutung zuzuschreiben. Wer oder was zwingt uns, die Schule so furchtbar ernst zu nehmen, uns oft sogar zum Erfüllungsgehilfen ihrer kultusministeriell verordneten Lehrpläne und Vorgaben zu machen und unsere Kinder und Jugendlichen auch noch selbst unter Druck zu setzen und sie am spielerischen Erkunden ihrer eigenen Möglichkeiten zu hindern, weil sie dafür gar keine Zeit mehr haben? Ich fürchte, wir sind alle darauf hereingefallen und haben sogar mit dazu beigetragen, dass die Schule von einer Maus zu einem Elefanten aufgeblasen worden ist.

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