Vertreter von Koalition und Opposition im Bundestag fordern mehr Entscheidungsgewalt für die Parlamente bei den Maßnahmen im Kampf gegen die Corona-Pandemie. Er sei es Leid, dass Bund-Länder-Runden die wesentlichen Entscheidungen träfen, sagte der SPD-Rechtsexperte Florian Post der „Bild“-Zeitung. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) warnte vor einer Beschädigung der Demokratie. Auch der Deutsche Richterbund sieht die derzeitigen Abläufe kritisch.
Viele aktuelle Beschränkungen des öffentlichen Lebens zur Eindämmung der Corona-Pandemie – etwa Maskenpflicht, Sperrstunden oder Beherbergungsverbote – gehen auf Verordnungen zurück. Diese werden in der Regel von den Landesregierungen erlassen, zum Teil auch auf Kommunalebene. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) kann ebenfalls Verordnungen rund um die Pandemie erlassen. Im Bundestag oder in den Landtagen wird darüber hingegen nicht abgestimmt.
„Es ist die Aufgabe des Parlaments, wesentliche Entscheidungen zu treffen, und nicht die Aufgabe von Regierungsmitgliedern“, sagte dazu der FDP-Politiker Kubicki am Sonntagabend im „Bild“-Talk „Die richtigen Fragen“. „Wenn wir als Parlament unsere Aufgabe jetzt nicht wahrnehmen, dann hat die Demokratie einen dauerhaften Schaden.“
Linksfraktionschefin Amira Mohamed Ali sagte am Montag im Radiosender SWR Aktuell: „Man kann sich nicht auf alle Zeiten auf eine Ausnahmesituation berufen, sondern jetzt muss auch entsprechend das Parlament beteiligt werden, denn es geht hier wirklich um Grundrechtseingriffe.“ Weitreichende Entscheidungen, die unmittelbar Einfluss auf das Leben der Menschen und ihre Bewegungsfreiheit hätten, müssten im Parlament getroffen werden.
Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt sagte der „Augsburger Allgemeinen“ (Dienstagausgabe) ebenfalls, es werde schon zu lange vor allem hinter verschlossenen Türen verhandelt. „Beratung, Abwägung, Entscheidung und Kontrolle gehören gerade in Krisenzeiten ins Parlament.“ Dies sei besonders wichtig für das Vertrauen der Bevölkerung in die politischen Entscheidungen.
Koalitionspolitiker sehen dies ähnlich. „Seit nunmehr fast einem Dreivierteljahr erlässt die Regierung in Bund, Ländern und Kommunen Verordnungen, die in einer noch nie dagewesenen Art und Weise im Nachkriegsdeutschland die Freiheiten der Menschen beschränken, ohne dass auch nur einmal ein gewähltes Parlament darüber abgestimmt hat“, sagte der SPD-Politiker Post der „Bild“-Zeitung vom Montag.
Er kritisierte speziell die Treffen von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Ministerpräsidenten der Länder. Das Grundgesetz kenne keine Konferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefs der Länder. Diese sei „nicht als gesetzgeberisches Organ vorgesehen“. Er sei dieses Vorgehen Leid, sagte Post.
Auch der Unionsfraktionsvize Carsten Linnemann (CDU) sprach von einer „beunruhigenden Entwicklung“. Das Parlament müsse „wieder selbstbewusster seine Rolle als Gesetzgeber einfordern und dann aber auch ausfüllen“, sagte Linnemann der „Bild“-Zeitung.
Der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbunds, Sven Rebehn, sagte dem „Handelsblatt“, in der ersten Pandemie-Phase sei es vertretbar gewesen, „Freiheitsrechte durch Verordnungen der Exekutive einzuschränken“, um möglichst rasch auf akute Gefahren reagieren zu können. „Das darf aber nicht zum Dauerzustand werden.“
Der Normalfall im demokratischen Rechtsstaat sei, dass die Parlamente die wesentlichen grundrechtsrelevanten Entscheidungen selbst treffen, sagte Rebehn. „Auf dem weiteren Weg durch die Pandemie sollten der Bundestag und die Landtage wieder stärker ins Zentrum der Entscheidungen rücken.“
In der kommenden Sitzungswoche des Bundestags, die am 26. Oktober beginnt, soll es eine Debatte über die Anti-Corona-Maßnahmen geben. Ein genaues Datum steht noch nicht fest.