Inmitten der Corona-Krise hat eine Affäre um Kinderbeihilfen die niederländische Regierung in eine Krise gestürzt: Am Freitag übernahm die Koalition unter Ministerpräsident Mark Rutte die Verantwortung für den Skandal und erklärte ihren Rücktritt. „Der Rechtsstaat muss seine Bürger vor einer allmächtigen Regierung schützen, und das ist hier furchtbar schief gelaufen“, sagte Rutte auf einer Pressekonferenz am Freitag. Die Behörden hatten tausenden Eltern zu Unrecht Betrug bei Kinderbeihilfen vorgeworfen und mit Rückforderungen viele Familien in finanzielle Not gestürzt.
Er habe König Willem-Alexander die Rücktrittserklärung des Kabinetts überreicht, erklärte Rutte nach einer Krisensitzung seines Kabinetts in Den Haag. „Wir sind uns einig: Wenn das ganze System versagt hat, kann die Verantwortung nur gemeinsam getragen werden.“ Die Regierung werde bis zur Parlamentswahl am 17. März geschäftsführend im Amt bleiben und „tun, was im Interesse des Landes notwendig ist“, fügte der Regierungschef hinzu. „Unser Kampf gegen das Coronavirus geht weiter.“
Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss war im Dezember zu dem Schluss gekommen, dass die Steuerbehörden zwischen 2013 und 2019 fälschlicherweise mehr als 20.000 Menschen des Betrugs bei Kinderbeihilfen beschuldigt hatten. Viele der Betroffenen mussten mehrere zehntausend Euro zurückzahlen. Im Zuge des Skandals seien „fundamentale Prinzipien des Rechtsstaates verletzt worden“, erklärte der Ausschuss.
Die Steuerbehörden betrieben demnach zudem sogenanntes Racial Profiling. Der Begriff beschreibt Fälle, bei denen Beamte Menschen allein aufgrund von Herkunft und äußeren Merkmalen kontrollieren. Rund 11.000 Menschen gerieten allein wegen ihrer doppelten Staatsbürgerschaft in den Fokus der Behörden. Die niederländischen Behörden sehen sich bereits seit längerem mit Rassismus-Vorwürfen konfrontiert.
Rutte hatte einen Rücktritt seiner Regierung unter Verweis auf die Corona-Pandemie zunächst abgelehnt. Einige Mitglieder der Vier-Parteien-Koalition drangen jedoch darauf, dass die Regierung Verantwortung für den Skandal übernehme, der Medienberichten zufolge rund 26.000 Niederländer betraf.
Der Druck auf Ruttes Regierung stieg, als der Parteichef der Sozialdemokraten, Lodewijk Asscher, am Donnerstag seinen Rücktritt erklärte. Asscher war während des Behördenversagens unter Rutte Sozial- und Arbeitsminister. Inzwischen gehört er der Opposition an.
Betroffene hatten am Dienstag gegen drei amtierende und zwei ehemalige Minister, darunter Asscher, Strafanträge eingereicht. Die Regierung hat den Betroffenen bereits Entschädigung in Höhe von jeweils 30.000 Euro zugesagt.
Der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders begrüßte den Rücktritt der Regierung. „Unschuldige Menschen wurden kriminalisiert, ihr Leben zerstört,“ schrieb Wilders im Onlinedienst Twitter. Die Behörden könnten nicht einfach „weitermachen, als ob nichts passiert wäre“. Grünen-Parteichef Jesse Klaver erklärte, die Entscheidung der Regierung könne ein „Neuanfang, ein Wendepunkt“ für die Niederlande sein.
Der Rücktritt der Regierungskoalition erfolgt inmitten der Corona-Krise und nur zwei Monate vor der Parlamentswahl am 17. März. Rutte hat seit 2010 drei Koalitionsregierungen geführt. Umfragen zufolge könnte seine bürgerlich-liberale Partei VVD auch aus der nächsten Wahl als Sieger hervorgehen.