Die EU-Kommission hat wegen des umstrittenen Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank (EZB) ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet. Wie die Behörde am Mittwoch mitteilte, geht sie „wegen der Verletzung grundlegender Prinzipien des EU-Rechts“ gegen Deutschland vor. Dabei gehe es auch um die „Beachtung der Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs“.
Das Bundesverfassungsgericht hatte im Mai 2020 das vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) gebilligte EZB-Anleihekaufprogramm PSPP in Teilen als verfassungswidrig eingestuft. Die Verfassungsrichter entschieden, dass die EZB ihre Beschlüsse nicht umfassend begründet und der EuGH das Vorgehen nicht ausreichend geprüft habe. Sie stellten deshalb kompetenzwidrige Beschlüsse fest und forderten die EZB auf, die Verhältnismäßigkeit des Programms binnen drei Monaten zu begründen.
„Alle Urteile des Europäischen Gerichtshofs sind bindend für die Behörden der Mitgliedstaaten, einschließlich der nationalen Gerichte“, sagte ein Kommissionssprecher. Das Bundesverfassungsgericht habe eine Entscheidung der EZB und ein Urteil des EuGH als Kompetenzüberschreitung kritisiert. Es habe damit dem EuGH-Urteil „die Rechtswirkung in Deutschland entzogen und gegen den Grundsatz des Vorrangs des EU-Rechts verstoßen“.
Es gehe nicht darum, die Unabhängigkeit der Gerichte in Deutschland in Zweifel zu ziehen, sagte der Sprecher weiter. Der Fall bedrohe aber „die Integrität des Unionsrechts“ und könne „den Weg zu einem Europa à la Carte eröffnen“. Deutschland müsse nun „mögliche Lösungen identifizieren“.
Regierungssprecher Steffen Seibert sagte in Berlin, das Mahnschreiben der Kommission sei zugestellt. „Wir werden uns die Bedenken genau anschauen und – wie es das Verfahren vorsieht – darauf schriftlich reagieren“. Ein Sprecher des Bundesfinanzministeriums sagte, aus Sicht der Bundesregierung sei „ein gutes Kooperationsverhältnis zwischen den Gerichten wichtig“.
Für eine Antwort hat Berlin nun zwei Monate Zeit. Ist die Kommission damit nicht zufrieden, kann sie Berlin nochmals förmlich auffordern, Verpflichtungen aus dem EU-Recht nachzukommen. Tut Deutschland das nicht, kann die Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof klagen.
Die Kommission habe „kein Interesse an einem vertieften Streit“ zwischen dem Europäischen Gerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht, hieß es bereits am Dienstag aus der Behörde. Brüssel arbeite deshalb in der Frage „eng mit dem Bundeskanzleramt“ zusammen.
Die Grünen im Bundestag begrüßten das Verfahren. Es sei der richtige Weg, um den Streit zu klären, erklärten die Abgeordneten Franziska Brantner und Lisa Paus. Denn das Verfassungsgericht habe „mit seiner Entscheidung die Letztinterpretationskompetenz für europäisches Recht durch den EuGH in Zweifel“ gezogen.
Auch der SPD-Europaabgeordnete Joachim Schuster sah den Schritt positiv. Die Zuständigkeit für eine einheitliche Auslegung des EU-Rechts liege „ausschließlich bei dem Europäischen Gerichtshof“, erklärte er. Sonst drohe „ein nationaler Flickenteppich von Rechtsauslegungen“, der Regierungen wie in Ungarn und Polen in die Hände spielen werde, „die ihrerseits eine fragwürdige Haltung gegenüber der Rechtsstaatlichkeit an den Tag legen“.
Der liberale Europa-Abgeordnete Guy Verhofstadt sah hinter dem Fall auch einen Streit um gemeinsame europäischer Verschuldung. „In diesem Gerichtsverfahren geht es um eine Fiskalunion“, schrieb er auf Twitter. Diese sei aus seiner Sicht „dringend“ nötig, „um die EU in der komplexen Welt des Jahres 2021 voranzubringen“.