Vom GAU zum Weltkulturerbe? Ukraine will Tschernobyl auf die Unesco-Liste setzen lassen

Denkmal für die Opfer der Tschernobyl-Katastrophe in Form eines Sockels mit der Figur eines Atoms in Pawlograd, Region Dnepropetrowsk - Bild: Mehaniq via Twenty20
Denkmal für die Opfer der Tschernobyl-Katastrophe in Form eines Sockels mit der Figur eines Atoms in Pawlograd, Region Dnepropetrowsk - Bild: Mehaniq via Twenty20

Der schlimmste Atomunfall der Weltgeschichte im Jahr 1986 hat das ukrainische Prypjat zur Geisterstadt werden lassen. Doch mehr als 30 Jahre nach dem Unglück von Tschernobyl ziehen wieder Menschengruppen, ausgestattet mit Geigerzählern, durch die verlassenen sowjetischen Häuserblocks. Mit 124.000 Touristen verzeichnete die evakuierte Zone rund um das Atomkraftwerk im Jahr 2019 einen Rekord. Die Regierung in Kiew strebt nun die Aufnahme Tschernobyls in die Unesco-Liste des Weltkulturerbes an.

Auch Touristenführer Maxim Poliwko wünscht sich einen solchen offiziellen Status für Tschernobyl. Bereits jetzt sei die Sperrzone im Nordwesten der Ukraine eine „weltberühmte Sehenswürdigkeit“, sagt er der Nachrichtenagentur AFP während einer Tour an einem kalten, verschneiten Dezember-Tag in Prypjat. 

Die Stadt liegt nur wenige Kilometer vom Atomkraftwerk entfernt. Die umliegenden Wälder sind zu einem Rückzugsort für Wildtiere wie Elche und Rehe geworden, die Straßen sind von Pflanzen überwuchert. In den Räumen der unheimlich wirkenden Wohnblöcke stapeln sich die Habseligkeiten der ehemaligen Bewohner.

Poliwko hofft, der Welterbe-Status werde die zuständigen Stellen dazu bewegen, verantwortungsvoller mit der verfallenden Infrastruktur aus der Sowjetzeit umzugehen. „All diese Objekte benötigen Reparaturen“, sagt er.

Im April 1986 explodierte der vierte Reaktor des Atomkraftwerks Tschernobyl. Die Katastrophe verstrahlte weite Landstriche in der Ukraine und dem Nachbarland Belarus. Hunderttausende Menschen wurden aus dutzenden Städten und Dörfern evakuiert. Eine Sperrzone wurde errichtet, die in etwa der Größe Luxemburgs entspricht. 

Die ukrainischen Behörden erklärten, die Gegend sei voraussichtlich für die nächsten 24.000 Jahre für Menschen unbewohnbar. Dennoch leben heute trotz der Bedrohung durch radioaktive Strahlung noch mehr als hundert zumeist ältere Menschen dort.

Die ukrainische Regierung beabsichtigt, bis März mehrere Objekte in der Sperrzone als Welterbestätten vorzuschlagen. Bis zu einer Entscheidung könnte es allerdings bis Ende 2023 dauern. Bei einem Erfolg stünde Tschernobyl dann auf einer Liste mit dem Taj Mahal in Indien, dem englischen Stonehenge oder der Abtei von Mont-Saint-Michel in Frankreich.

Ziel sei es, die Sperrzone als „Ort der Erinnerung“ zu fördern, sagte der ukrainische Kulturminister Alexander Tkatschenko. Die zuletzt steigende Zahl in- und ausländischer Touristen sei ein Beweis für Tschernobyls Bedeutung, „nicht nur für Ukrainer, sondern für die gesamte Menschheit“, fügte er hinzu. „Die Gegend kann und sollte offen für Besucher sein, aber es sollte mehr als nur ein Abenteuerziel für Entdecker sein.“ Ein Ort, „der uns Dinge lehrt“.

Nach der Katastrophe lieferten drei der vier Reaktoren von Tschernobyl weiter Elektrizität, bis das Kraftwerk im Dezember 2000 endgültig stillgelegt wurde. Vor vier Jahren wurde der Bau einer gigantischen Schutzkuppel um den vierten Reaktor fertigstellt. Der Standort gilt damit für die kommenden hundert Jahre als sicher. Die beliebte Fernsehserie „Chernobyl“ aus dem Jahr 2019 verschaffte der Nuklearkatastrophe und ihren Folgen erneut weltweite Aufmerksamkeit.

Tkatschenko rechnet damit, dass die Aufnahme Tschernobyls in die Unesco-Liste des Weltkulturerbes die Besucherzahlen auf eine Million im Jahr anheben könnte. Für einen solchen Ansturm müsste allerdings die touristische Infrastruktur deutlich gestärkt werden. Bisher müssen sich Besucher mit einem einsamen Souvenirladen begnügen, der die üblichen Produkte wie T-Shirts und Tassen anbietet – bedruckt mit dem schwarz-gelben Warnzeichen für Radioaktivität.

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