Die EU-Kommission plant wegen des umstrittenen Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank (EZB) ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland. Wie am Dienstag aus EU-Kreisen in Brüssel verlautete, wird das Verfahren vorbereitet. Eine formale Einleitung könnte demnach am Mittwoch erfolgen.
Das Bundesverfassungsgericht hatte im Mai 2020 das vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) gebilligte EZB-Anleihekaufprogramm PSPP in Teilen als verfassungswidrig eingestuft. Die Verfassungsrichter entschieden, dass die EZB ihre Beschlüsse nicht umfassend begründet und der EuGH das Vorgehen nicht ausreichend geprüft habe. Sie stellten deshalb kompetenzwidrige Beschlüsse fest und forderten die EZB auf, die Verhältnismäßigkeit des Programms binnen drei Monaten zu begründen.
In dem Fall geht es damit im Kern um die Frage des Vorrangs von EU- vor nationalem Recht. Für die EU-Kommission ist das Vorgehen gegen Deutschland auch eine Frage des Prinzips. Denn sie hat bereits mehrfach Länder wie Polen kritisiert, weil diese sich weigern, Urteile des Europäischen Gerichtshofs umzusetzen.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte schon wenige Tage nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil ein Vertragsverletzungsverfahren nicht ausgeschlossen. „Urteile der Europäischen Gerichtshofs (sind) für alle nationalen Gerichte bindend“, erklärte sie im Mai 2020. „Das letzte Wort zu EU-Recht wird immer in Luxemburg gesprochen. Nirgendwo sonst.“
Die Kommission will nun argumentieren, dass der Fall nicht dadurch erledigt ist, dass sich das Bundesverfassungsgericht Ende April zufrieden mit der Umsetzung seines Urtreils durch Bundesregierung und Bundestag gezeigt hat. Dabei ging es im Wesentlichen um eine nachträgliche Prüfung, ob die Anleihekäufe der EZB verhältnismäßig sind und eine genauere Begründung durch die Zentralbank.
Es bleibe bei der Tatsache, dass das Verfassungsgericht erklärt habe, die europäischen Richter hätten jenseits ihrer Kompetenzen gehandelt, weshalb ihre Entscheidung keine Rechtskraft in Deutschland entfalten könne, hieß es. Offen ist, was Brüssel konkret von Deutschland verlangt. Aus Sicht der Kommission obliegt es der deutschen Seite, „einen angemessenen Weg zu finden, den Verstoß zu beseitigen“.
Die Kommission habe „kein Interesse an einem vertieften Streit“ zwischen dem Europäischen Gerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht, hieß es in der Kommission. Die Behörde arbeite deshalb in der Frage „eng mit dem Bundeskanzleramt“ zusammen.
„Ich frage mich ernsthaft, wem ein solches Vertragsverletzungsverfahren helfen soll und welche Ziele die Kommission hier verfolgt“, kritisierte der Europaabgeordnete Markus Ferber (CSU). „Das Problem ist eigentlich bereits aus dem Weg geräumt. Es gibt also keinen guten Grund für die Prinzipienreiterei der Kommission.“
Der Grünen-Abgeordnete Sven Giegold sah das Vertragsverletzungsverfahren hingegen als „geeigneten Weg, um den rechtlichen Konflikt zu lösen“. Es sei „keine Strafe für Deutschland“. Er bezeichnete das Karlsruher Urteil als „Steilvorlage für rechtspopulistische Regierungen“ in Europa. Sie könnten nun ähnlich argumentieren. „Große und kleine Mitgliedstaaten müssen bei der Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit durch die EU gleich behandelt werden.“
Nach Einleitung des Verfahren wird die Kommission ein Schreiben mit den Vorwürfen an die Bundesregierung senden. Nachdem Deutschland darauf reagiert hat, kann die Kommission Berlin nochmals förmlich auffordern, seinen Verpflichtungen aus dem EU-Recht nachzukommen. Tut Deutschland das nicht, kann die Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof klagen.